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 Moderiert von: Che Guevara


 Thema: Das wird schon wieder ( von Jochen Temsch )
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ZweiDreiFüchse

Arctic
von Jochen Temsch
Ich friste mein Dasein als Klischee. So ein richtiger Arschwischer bin ich geworden. Ich wechsle Windeln, salbe furunkulöse Rücken, spritze knochentiefe Wunden mit Desinfektionsmitteln aus, verbinde nässende Eiterbeulen, lasse mich ansabbern aus zahnlosen Mündern und anspeien mit Blut und den unverdauten Resten von Babynahrung. Ich betrete Räume voller Miasmen und fasse an, was die Sterbenden absondern. Ich arbeite an den Körperöffnungen der Menschen, ganz am Ende. Dort, wo der einzelne aufhört zu existieren, wo er sich langsam auflöst und zu einem übelriechenden Haufen welken Fleisches wird. Meine Patienten sind gelähmt, verkalkt, verkrebst, hirnschwündig, offen und fast schon tot.

Die Ärzte entlassen sie aus den Kliniken, damit sie zu Hause sterben können.

Einer hatte einen Leistenbruch. ER war mit seinen 85 Jahren geistig fit ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Narkose raubte ihm den Verstand. Wir holten ihn aus einem von oben bis unten verschissenen Bett. Seine Tochter war psychisch wie physisch am Ende und zitterte am ganzen Leib. Sie sagte, tagsüber sei er immer ganz ruhig und schlafe friedlich. Nachts dagegen stehe er auf, saufe Schnaps und stecke sich Zigarren an. In Wirklichkeit langt ihm das noch nicht, denn er kackt auch in seine Nachttischschubladen rein. Pissen tut er in den Schrank. Ich wunderte mich noch, warum der Boden im Schlafzimmer aus nackten Holzdielen besteht! Wie bei den Tieren – ist besser abzuwaschen als Teppich.

Wir zogen den Alten aus und steckten ihn in die Badewanne. Er besitzt noch nicht mal eine Zentralheizung, nur Kohleöfen. Der beißende Rauchgeruch im Badezimmer überdeckt den allgegenwärtigen apokalyptischen Gestank des Abtretens von dieser Welt wenigstens ein kleines bisschen. Aber der Leistenbruch! So was habe ich noch nie gesehen. Ich fragte mich schon, als der Mann noch seinen Schlafanzug trug: Was hat er denn an den Beinen? Seine Hose war so seltsam ausgebeult. Das waren seine Hoden!

Wir schrubbten und schmirgelten diesen schlaffen Körper mit unseren Waschlappen. Und die angetrocknete Kacke hing in jeder Pore fest, wollte einfach nicht von ihm heruntergehen. Nachher setzten wir den Alten auf einen Stuhl, kämmten ihn und machten ihm ein Fußbad. Jetzt kam die Feinarbeit. Ich kniete mich hin und zwängte meinen Zeigefinger in die engen Zwischenräume seiner rissigen, verwachsenen und brandigen Zehen – und pulte auch dort die Scheiße hervor. Vor zwei Tagen ist der Alte gestorben. Wir sind alle sehr zufrieden darüber.

Bei einem anderen Patienten verbinden wir jeden Tag zweimal das Steißbein. Es guckt halt raus am Ende der Wirbelsäule. Ich ziehe die Hautlappen mit Pinzetten auseinander, und meine Kollegin spritzt Wasserstoffsuperoxid in diesen feurig roten, eitrigen Schlund. Wenn das Wasserstoffsuperoxid auf die Wunde trifft, schäumt es und knallt leise – wie Brause.

Ja, der Ekel. Man gewöhnt sich hoffentlich. Ich zwang mich von Anfang an hinzugucken, hinzufassen – und meine Vorgesetzten zwangen mich dazu. Ich bin Befehlsempfänger und kann selbst mit Gefängnis bestraft werden, wenn ich mich den Befehlen verweigere. Man gewöhnt sich, dann ist es wie putzen gehen.

Mein erster Tag als Zivildienstleistender: Die Oberpflegerin holte mich ab. Ich sah sie zum ersten Mal. Sie ist klein und gedrungen, hat wurstige Arme und einen Kopf wie eine Bulldogge, mit einer faltigen Speckschicht unter dem eigentlichen Kinn. Durch ein Kassengestell von der Brille schaut sie einen stets erstaunt und angewidert, ja fast mitleidig an. Wie ein Wachhund, der den Eindringling zuerst mustert, bevor er ihm an die Gurgel springt. Ich habe mir deshalb abgewöhnt, ihr ins Gesicht zu sehen, wenn wir reden. Sie hat einen Humor wie eine rostige Hundekette – ich meine, sie hat überhaupt keinen.

Mich hasst sie. Ich sage „Hallo“, stelle mich vor und machen einen auf kollegial, lache sie an und bin ganz aufgeschlossen. Immerhin ist sie diejenige, die mich einlernt, bevor ich alleine auf Tour gehen muss.

„Ihr Dienst dauert fünfzehn Monate. Ich muss noch ein paar Jährchen länger arbeiten, bevor die Rente fällig ist. Ich hoffe, Sie wissen, was das heißt. Sie werden mich sehr stark entlasten.“ Damit fährt sie mir gleich über den Mund und stellt klar, dass sie keine Lust hat, verbal mehr als die dienstliche Notdurft an mir zu verrichten. Sie trägt die Last der Leiden der Welt auf ihren Schultern – und nachts weiß sie nicht mehr, wie sie ihr kaputtes Kreuz lagern soll, weil sie vor Schmerzen schier umkommt.

Leider muss ich mit ihr leben, denn sie lernt mich nicht nur an, sondern schreibt auch die Dienstpläne. Sie gewährt mir Urlaub und bestimmt darüber, wie hart die Fälle sind, die ich alleine zu betreuen haben werden.

„Wie läuft’ s denn ab heute?“ frage ich. Sie wird schon wieder bissig: „Wie soll’ s ablaufen? Wir klappern die Menschen ab! Das ist an Ihrem ersten Tag so, und das wird an Ihrem letzten Tag so sein!“ Okay, ich bin hier die billige Arbeitskraft, der letzte Dreck, der Schuhabstreifer, ein Nichts. Ich beschließe, dass meine Oberpflegerin fortan nur noch Zerberus heißt.

Wir betreten ein ungelüftetes Zimmer voller Kitsch und Nippes und hässlicher Kinderphotos. „Sind das Ihre Enkel, die sind ja süß...“ Der Fußboden knarrt, die Standuhr tickt. Sie geht zwei Stunden nach. Ein Ehepaar ist zu versorgen. Die Frau hat offene Beine.

Es sieht aus wie eine Mischung zwischen Verbrennung und Lepra. Der Mann ist blind.

Er fragt, ob ich Deutsch sei. „Ja.“ – „Gut, Ausländer sind Geschwärl für mich, das kann ich Ihnen gleich sagen“, sagt er todernst. Zerberus knurrt: „ Jaja, aber wenn einer unserer ausländischen Krankenpfleger kommt, dann sind Sie auch froh, oder?“ – „Ich kann mir diese Pfleger ja leider nicht aussuchen!“ schnauzt der Blinde zurück. Grinsend schiebt er sein Unterhemd hoch und feixt: „ Haben Sie so was schon mal gesehen?“ An seinem bleichen Wanst hängt ein mokkabrauner Plastikbeutel. Der Alte langt immer wieder hin und drückt den matschigen Inhalt mit den Fingern zusammen. Das erzeugt ein schmatzendes Geräusch, das mich an Grütze erinnert, in der man mit einem Löffel rührt. „Das ist ein künstlicher Darmausgang“, triumphiert er. Er schaut dabei genau in meine Richtung. Mein Herz beginnt zu rasen.

Zerberus entfernt ein quadratisches Pflaster – und schon hält sie den Beutel in der Hand. Ich zwinge mich, das Stück Darm anzugucken, das ganz runzlig, blutig, feucht und zuckend aus der Bauchdecke wächst. Man nennt dieses Stück heraushängenden Darmes Anus – das heißt soviel wie Arschloch, nur auf lateinisch. Zerberus nimmt eine Schablone und schneidet ein neues quadratisches Pflaster zurecht, um einen neuen Beutel an dem Mann zu befestigen. Da rieche ich es: Langsam verbreitet sich ein Gesatank im Wohnzimmer! Ein Gestank! Wie nach einer geplatzten Pestbeule! Wie nach einem offenen Grab! Es stinkt direkt aus dem Darm heraus, entströmt geradewegs dem tiefsten Innern fauliger Eingeweide.

Zerberus guckt mich neugierig an. Ich verziehe keine Miene. Dann ruft der Alte ganz freudig überrascht: „Ha! Da kommt ja noch was raus!“ Jetzt bricht meine Panik voll aus: „Oh, nein, oh, nein, oh, nein, oh, nein.“ Zerberus eilt zu ihm: „Drücken Sie! Drücken Sie! Ja! So, dass alles rauskommt!“ Ich will tot umfallen. Und der drückt. Zerberus hält ein Taschentuch unter das, was aus diesem hinfälligen Körper heraus will, und massiert ihn gleichzeitig, um ihm noch mehr zu entlocken. Der Gestank steckt in sämtlichen Fasern meiner Kleidung, er hat sich in meinen Haaren festgesetzt und haftet auf meiner Haut. Zu Hause ziehe ich mich schon im Flur aus, werfe die Klamotten in die Wäschetonne und steige sofort unter die Dusche. Ich lasse das Wasser stundenlang an mir herabrinnen und parfümiere mich anschließend sehr stark ein. Aber es hilft alles nichts. Der Gestank hängt mir stets in der Nase. Er schleicht sich aus meinem Gedächtnis, das ich nicht abwaschen kann. Ja, man hat auch für Gerüche eine Erinnerung.

Bei manchen Patienten schreien wir schon an der Eingangstür: „Guten Morgen!“ Kommt keine Reaktion, machen wir uns auf den Tod gefasst. Einer dieser Patienten ist achtzig Jahre alt. Er liegt jeden Morgen bis über beide Ohren unter seiner Bettdecke und weigert sich aufzustehen. Wenn wir kommen, muss er raus. Zerberus widerspricht man nicht. Wenn wir gehen, legt er sich wieder rein und zieht sich die Decke über den Kopf.

Seine Beine sind angeschwollen wie die eines Elefanten. Dagegen bekommt er Wassertabletten. Auf Wassertabletten muss man immerfort pinkeln. Dieser Patient macht gleich ins Bett. Die Lebensgefährtin ist ihm vor einem halben Jahr weggestorben. Seitdem bekommt der Mann auch Saroten. Zerberus sagt: „Das ist, damit man nicht mehr soviel weinen muss.“
14.09.2003 1:16:46  Zum letzten Beitrag
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ZweiDreiFüchse

Arctic
In der Nacht zuvor hatte er Durchfall. Zerberus kniet sich in, um ihm die Hosen herunterzuziehen. Sie kniet sich in Scheiße. Der Mann ha vergangene Nacht neben die Kloschüssel gemacht. Zerberus merkt es erst, als sie wieder aufsteht. Sie verzieht ihr Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, sagt aber nichts. Was sollte sie auch sagen? Wir stellen den Alten auf. Er hält sich zittrig am Waschbeckenrand fest. Sein Körper ist ein Skelett, mit dünnem, fleckigen Pergament überzogen. Sein Mund ist eine schwarze Höhle, immer für Jammerlaute geöffnet, zahnlos bis auf zwei Goldstifte im Unterkiefer.

„Au-au-au-au-au ... au-au-au-au-au-au. » So geht es ohne Pause. Wie aus einem Kanaldeckel steigen namenlose Magengerüche aus diesem Mund empor. Ich kann ihnen nicht entgehen, weil ich den Alten rasieren muss. Das ist nicht leicht. Die lappige Haut am Hals ist so schlaff wie bei einer Echse und lässt sich kaum schaben. Der Mann weint. Er stammelt: „Is’ doch kein Leben.“ Er will Rasierklingen von uns haben oder wenigstens einen Strick. Zerberus sagt: „Er hat Rasierklingen, und er könnte sich sehr leicht umbringen, wenn er nur wollte. Das tut er aber nicht. Er braucht das Gerede.“ Dann schreit sie ihm ins Ohr: „Das wird schon wieder werden.“ – „Ich mag nicht mehr leben“, erwidert der Alte. „Na, na, na, na! Sie dürfen dem lieben Herrgott doch nicht in sein Handwerk pfuschen!”

Ein anderer liegt den ganzen Tag in einen Bademantel gewickelt auf seiner Couch und liest die Bild-Zeitung. Das heißt, er schaut sich die blanken Brüste an. Er stinkt bestialisch ungewaschen und sträubt sich mit Haut und Haaren gegen Wasser. „Du Depp!“ schreit der Alte, während ich ihn wasche. Ich denke: „Ganz ruhig, Junge! Der weiß doch nicht mehr, was er sagt. Sei ihm nicht böse. Er meint es im Grunde genommen nicht so!“ Vergeblich. Ich schreie zurück: „Selber Depp!“

Ich könnte ihn mit bloßen Händen erwürgen! Ich entscheide mich aber für subtilere Rachemethoden. Normalerweise benutzen wir immer zwei Waschlappen – einen hellen für Gesicht und Oberkörper, einen dunklen für Beine und Genitalien. Er allerdings bekommt von mir nur den dunklen Waschlappen, für Arsch und Gesicht, für sein Arschgesicht. Doch damit nicht genug! Wenn ich einen netten Patienten mit Franzbranntwein abreiben will, dann kündige ich das vorher mit einem mitleidigen, kindgerechten Ton an: „Vorsicht, jetzt wird es gleich eiskalt, bitte nicht erschrecken!“ Nicht so bei diesem renitenten Alten. Nein, ich schütte ihm das Zeug einfach drüber, total überraschen d und soviel wie möglich.

Mein ist die Rache! Di kleinen Boshaftigkeiten entschädigen mich für mein angeschlagenes Nervenkostüm. Schließlich benutzen einen die Alten als Ventil für ihre Leiden. Das hält man auf Dauer nicht aus. Zur Zeit gehe ich mit einem 98 Jahre alten Mann spazieren. Manchmal wird ihm schwarz vor Augen, dann schwankt er, dann rempelt er mich lachend an, wie ein Kumpel. Es ist leider nicht zum Lachen. Ich muss ihn zehn Minuten lang gegen einen Baum oder eine Straßenlaterne lehnen, bevor er wider gehen kann. „Sagen Sie nichts meiner Schwiegertochter“, bittet er mich. „Keine Angst, es bleibt alles unter uns!“ verspreche ich.

Die Schwiegertochter gängelt ihn sehr. Pausenlos fährt sie ihn an: „Setz deine Mütze auf! Heb deine Beine beim Laufen! Lass den Mantel zu! Tret dir ja die Füße ab, wenn du heimkommst!“ und so weiter und so fort. Er vermachte ihr sein ganzes Vermögen – dafür bevormundet sie den Alten jetzt und fühlt sich genervt von ihm.

Der Alte fragt: „Was wollten Sie noch von mir lernen?“ und labert, ohne eine Antwort abzuwarten, drauflos wie ein Wasserfall. Dann versinkt die Welt um ihn herum. Nur Kinder, Kinder bemerkt er. „Is’ das `n Kind?“ fragt er vorfreudig lächelnd, wenn er eines zu sehen glaubt. Die entsetzten Mütter aber ziehen ihre Buben und Mädchen sofort von ihm weg, bevor er ihnen womöglich noch über den Kopf streicheln kann.

Er grüßt alle Passanten und Straßenlaternen und Mülltonnen, die er für Passanten hält, mit einem saloppen „Tach“. Er erzählt jedes Mal, dass es seinerzeit Sitte war, jeden zu grüßen, der einem über den Weg lief. Natürlich bekommt er nie einen Gruß zurück – von Passanten genauso wenig wie von Straßenlaternen oder Mülltonnen. Ich sage so laut es geht: „Jaja, das Grüßen ist heute leider aus der Mode gekommen. Die Menschen werden immer unmöglicher!“ Dann dreht man sich nach uns um. Wenn Blicke töten könnten!

Die Medizin hat die Lebenserwartung verlängert. Doch es ist keine allzu große Erwartung, die man an so ein verlängertes Leben stellen kann. Denn man wird krank an diesem langen Leben, stinkig, offen und eitrig. In den Kliniken ist der Tod ein Betriebsunfall. Und schon jetzt gibt es keine Pflegeplätze mehr. Die Armut, in der die meisten mit ihren unverschämt niedrigen Renten leben, schreit nach Gerechtigkeit! Sie bekommen Medikamente und vergehen erst, nachdem sie sich selber viel zu lange überlebt haben. Das macht mich krank. Aber unsere Generation besteht nur aus Plastik, Konsum und Karrieredenken. Die einzigen Werte sind gut aussehen und Spaß haben. Dann stehe ich in einer Yuppie-Kneipe, inmitten von frischgefönter Geschwätzigkeit. Irgendwann fragt mich einer: „Und was machst du so?“ Ich sage es ihm. Er schaut mich an und grinst: „Ach so!“

Eine Woche lang habe ich Frau H., meine Krebspatientin, nun nicht mehr besucht. Als ich heute ihre Bettdecke zurückschlage, trete ich vor Schreck einen Schritt zurück und remple dabei ihre Tochter an, die tränenüberströmt die Hände ringt: Frau H. ist von oben bis unten voller Stuhlgang!

Frau H.s Haut ist völlig gelb und runzlig. Beide Fesseln sind mit Bandagen umwickelt. Das Desinfektionsmittel macht sie widerlich fleckig. Frau H.s Pi ist flachgedrückt vom ewigen Liegen und voller Falten, aus denen Exkremente quellen. Unfassbar ist für mich, wie enorm sie abgemagert ist. Ihre Bauchdecke ist bis auf die Wirbelsäule eingesunken. Die Frau ist nur noch gespannte Haut und beinahe hindurchplatzende Knochen. Sie scheint sogar zum Stöhnen zu schwach. Es hilft alles nichts mehr. Sie schaut mich mit geweiteten Augen an. Normalerweise freute sie mein Anblick immer – heute erkennt sie mich nicht einmal. Ich blicke in einen Totenschädel. Ihre Augen sind farbloser als sonst. Dann verdreht sie die Augen, ich sehe nur noch das Weiße. Und – sie hat sich den Kot auch ins Gesicht geschmiert. Sie muss schon eine Weile so liegen, denn unter ihren Fingernägeln ist er bereits angetrocknet. Wir hieven sie in die Wanne. Ich schrubbe sie mit dem Waschlappen, ohne Handschuhe, weil ich keine Zeit zum Anziehen hatte. Ihr Tochter weint: „Sie hat so was noch nie gemacht. Ihren Lebtag lang war sie ein Putzteufel. Sie konnte kein Stäubchen sehen. Dass sie jetzt sogar...Scheiße anfasst, begreife ich nicht.“

Wir müssten eigentlich von Raben umschwirrt sein oder von Assgeiern, denke ich manchmal. Unser Besuch heißt: Du bist kranke, und es will dich keiner haben – und du wirst bald sterben!

Unvergesslich wird mir bleiben, wie mich meine Nachbarin auf einem Wohltätigkeitsbasar ihren Bekannten vorstellte: „Dieser junge Mann wohnt neben uns. Er ist Zivi. Der kommt zu euch, wenn ihr nicht mehr richtig könnt.“ Eine Endfünfzigerin mit fettglänzenden, vom Wein geröteten Schweinebacken lachte laut auf: „Ja, der junge Mann kann von mir aus gleich kommen und mir bei der Hausarbeit helfen. Es gibt noch so viel zu spülen und zu waschen!“ Der Rest der Gesellschaft amüsierte sich königlich über diese originelle Bemerkung. Ich grinste verschlagen und dachte: „Ich krieg dich!“

Heute begleitete mich Zerberus zu Frau H. Die Tochter der Alten empfängt uns nervös lächelnd: „Guten Morgen! Ich bin richtig froh. Meine Mutter schläft noch tief und fest. Vielleicht wird es wieder?“ Ich stutze, weil Zerberus auf der Schwelle zum Schlafzimmer halt macht. „Moment, ich bin gleich wieder zurück. Das hier ist mehr als Tiefschlaf!“ sagt sie und rennte davon. Sie holt ein Blutdruckmessgerät aus dem Wagen. Ich streichle derweil Frau H.s Wangen. „Hallo, Frau H.! Wir kommen, um Sie zu waschen!“ Keine Reaktion.

Zerberus misst den Blutdruck und fragt mich: „Möchten Sie auch mal?“ Das Stethoskop im Ohr, pumpe ich die Manschette auf. Sie ist dreimal um den Knochen gewickelt, der einst ein Oberarm war. Bei der Ziffer 220 beginne ich mit dem Luftablassen. Ich höre nichts. 180 – immer noch kein Pochen. 150, 130, 100, 80, 70, nichts, nichts, nichts. Zerberus berührt mich sanft an der Schulter. „Bemühen Sie sich nicht – der Blutdruck ist nicht mehr zu hören.“ Mir wird schlecht.

Wir waschen und verbinden Frau H. Sie stöhnt nur einmal kurz auf. Frau H.s Fersen sind pechschwarz, ihre Waden sind dunkelblau. Füße und Hände fühlen sich eiskalt an. Zerberus flüstert: „Die Blutzirkulation zentralisiert sich.“ Das heißt: Der Kreislauf versorgt nur noch die lebensnotwendigen Organe.

Frau H. junior zieht mich in die Besenkammer und flüstert: „Haben Sie es sich überlegt mit den Möbeln? Können Sie was brauchen?“ Ich sage: „Ja, den Nierentisch.“ – „Wollen Sie nicht auch dieses Sofa? Das lässt sich ausziehen. Und die Matratzen sind Markenware.“

Sie ist jetzt wie ein Handlungsreisender. Dann drückt sie mir hundert Mark in die Hand. Ich will das nicht annehmen. Sie sagt mit einem stolzen Lächeln: „Ich kann Ihnen gar nicht genug geben für all das Gute, das Sie an meiner Mutter tun!“ Zerberus gibt Frau H. senior noch höchstens zwei Tage.
14.09.2003 1:17:06  Zum letzten Beitrag
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ZweiDreiFüchse

Arctic
So, gelesen?
Diesen Text diskutierten wir in einer Gruppe auf einem Zivilehrgang diese Woche. Die Meinungen gingen dabei durchaus auseinander, gerade was die Würde betrifft.
Und ihr? Was meint ihr, könnt ihr euch identifizieren, sind hier überhaupt Zivis (neben mir)?

Nachträglich: [Die Zeit Nr. 48 vom 25. November 1994]
Artikel von Jochen Temsch

[Jochen Temsch, 23 Jahre alt, leistete bis Ende 1994 seinen Zivildienst als ambulanter Altenpfleger in einer westdeutschen Großstadt.]
14.09.2003 1:21:46  Zum letzten Beitrag
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ZweiDreiFüchse

Arctic
Ich bin übrigens nicht Jochen Temsch.
Könnte ja sein, dass das jemand missversteht.
14.09.2003 1:24:15  Zum letzten Beitrag
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der Kommissar

der Kommissar
Och Jochen!
14.09.2003 12:04:01  Zum letzten Beitrag
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InfansSolaris

Leet
etwas für sehr schlecht befinden
Hast du dich hier nur angemeldet um das zu posten?

Also ich denke mal du bist ein Bundeswehrbeauftragter der hier mal eben die schlimmstem Erlebnisses 1000er Zivis zusammenfaßt um für den Bund zu werben.

Es ist Sonntag Mittag (=Sonntag früh für mich) und ich weigere mich hier solche Ekligkeiten durchzulesen... hab aber Ausschnitte gelesen.

Das hat jedenfalls nicht alles ein einziger Zivi erlebt...da ist unzumutbar! Zivis sind keine ausgebildeten Sanitäter oder Altenpfleger... ist sind einfach nur die billigsten Arbeitskräfte!
14.09.2003 12:23:54  Zum letzten Beitrag
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ZweiDreiFüchse

Arctic
Nein, ich hab mich nicht nur angemeldet, um das hier zu posten. Ich bin eigentlich sogar registriert und zwar als PseudoPuNk, aber das PW funktioniert nicht mehr. Deswegen habe ich mich neu angemeldet.

So, zum Text: Das hat definitiv ein einziger Zivi erlebt.
14.09.2003 13:33:34  Zum letzten Beitrag
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Stroganoff

stroganoff_mod
...
 
Zitat von der Kommissar
Och Jochen!

Du hast's doch nichtmal überflogen, Dreckpunk.
14.09.2003 13:55:22  Zum letzten Beitrag
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[d'oh]RadioActiveMan

AUP RadioActiveMan 26.12.2012
guter text, ich dacht schon an dir ist ein schriftsteller verloren gegangen. aber da's von jochen ist ...

mir wird schon vom lesen richtig schlecht. ich bin verdammt froh, dass ich bund gemacht hab, und nur ein bisschen auto fahrn musste. da hab ich mal das ganze land gesehn von der ostsee bis bayern und von köln bis zum östlichsten osten.
und kaum einer ging mir aufn sack.

ich kenn die sprüche auch: "ach, da gewöhnt man sich dran ... "
ich möcht das bezweifeln. schon die bilder die sich nur durchs lesen in meinem kopf gebildet haben, werd ich schwer losbekommen.

respekt an die leute, die das aushalten.
14.09.2003 14:10:59  Zum letzten Beitrag
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ZweiDreiFüchse

Arctic
Naja, Bund allein ist ja nicht die Alternative.
Das Zivildienstfeld beschränkt sich nicht allein auf Altenpfelge, aber ich glaube, das ist das schlimmste, was man im Zivibereich machen kann.
Ich selbst arbeite in einem Behindertenwohnheim und bin für Pflege und Betreuung zuständig.
Das heißt, man hat dort Menschen, die entweder körperlich oder geistig, oder auch auf beide Arten zusammen behindert sind. Manche mehr, manche weniger. Viele müssen gewaschen werden. Der Toilettengang funktioniert auch nicht bei allen von selbst und so mancher scheißt seine Windeln, bzw. sein Bett voll und spielt mit dem Zeug. Das ist nicht grad appetitlich, aber was ich mache ist noch sehr sehr dankbar gegenüber dem, was im obigen Text beschrieben ist. Also, alle Achtung.

Was das eigentliche Diskussionsthema betrifft, kann ich nicht sagen, dass dieser Jochen einen an der Klatsche hat.
Das meinten aber einige auf dem Seminar. Er könne das nicht so schreiben, weil er damit respektlos den Alten gegenüber ist. Ich finde aber, alles andere wäre heuchlerisch, weil das, was er schreibt einfach ehrlich ist und der Realität entspricht. Weiterhin denke ich, dass er nicht umsonst derartig bildhafte verbale Ergüsse hat. Nein, nein, er baut seine Aussagen soweit auf, dass der Leser ein entsetzliches Bild vor Augen hat (besonders mal die, die immer sagen: "Die Zivis machen doch eh nischt.") und dann die Stelle mit dieser Frau auf dem Wohltätigkeitsbasar, die einen Witz reißt. Damit stellt der Jochen gekonnt dar, dass es doch etwas mehr mit dem Zivileben auf sich hat, als viele denken.
Die Zivis machen nämlich doch etwas. Ne ganze Menge. Und darum gehts.
14.09.2003 15:35:09  Zum letzten Beitrag
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[d'oh]RadioActiveMan

AUP RadioActiveMan 26.12.2012
jetzt mal unabhängig vom thema.
der schreibstil ist, zu mindest meiner meinung nach, richtig gut. diese vergleiche und bildlichen verdeutlichungen sind einfach nur klasse. der mann hat definitiv keine klatsche. vielleicht sind die erlebnisse überspitzt, aber vielleicht hat er sie auch wirklich erlebt. vielleicht hat er es sich auch nur aus erzählungen zusammengereimt.
auf jeden fall kommt es sehr glaubhaft rüber, und man kann sich gut in die situation hinein versetzen.
ich hab schon gute bücher gelesen, die schwächer geschrieben waren.
der mann hat talent.

leute, die nach dem sie diesen text gelesen haben, behaupten der autor hätte ne klatsche, befinden sich, so leid es mir tut, wahrscheinlich auf einen einfach zu niedrigen niveau, so dass sie den text nicht richtig erfassen können und nur einzelne worte in sich aufnehmen, aus denen sie dann ihre schlüsse ziehen.
eine gewissen intelligenz fehlt da einfach. aber da kann man ja keinem einen vorwurf machen.

das ist wie mitm penis. manche ham halt nen kleinen und manche ne großen. Augenzwinkern

cooler vergleich, wah?
ich hoff, ich bin keinem zu nah getreten ... nich wahr stroggi
Breites Grinsen
14.09.2003 23:40:37  Zum letzten Beitrag
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InfansSolaris

Leet
missmutig gucken
Nennt mich engstirnig oder kurzsichtig oder ... anderes.
Ich bleibe bei der Meinung das das kein Einzelner erlebt haben kann. Wenn doch und er beschwerte sich während dieser Zeit nicht, dann kann er schreiben wie er will, er bleibt saudoof!

Vom Schreibstil her stimme ich dem radioaktiven Mann Augenzwinkern zu, der is gut, obwohl es manchmal wirklich etwas übertrieben eklig dargestellt wird. (Manchmal ist weniger mehr.)
Kommt man jedoch auf den Inhalt zurück...meine Meinung steht oben.

Und dieses: "Die Zivis machen nämlich doch was." ... als ich nach dem Abi zum Bund bin haben auch etliche Zivi gemacht, und die haben mich ausgelacht! Die sind kurz umgefallen und waren in ihrer Sozialstation (me 4h Zugfahrt), wo es nur drum ging Kaffee zu kochen und Leute von A nach B zu fahren. Da sie zuhause wohnten bekamen sie auch mehr Geld als ich, ganz zu schweigen von der "Sachen-Abnutzungs-Entschädigung". Wurde ein Kleintrasporter gebraucht: kein Problem, nehmen wir doch den von "Arbeit".

Sicherlich gabs beim Bund auch so Eierschaukel-Jobs und ich deswegen kann ich so eine generelle Aussage wie du sie triffts nicht hinnehmen.

Aber jeder stellt es halt so dar, das seine Entscheidung (Zivi/Bund) als richtige oder bessere dasteht Augenzwinkern
15.09.2003 10:03:32  Zum letzten Beitrag
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Tony.50

Tony.50
Auch ohne das erstmal gelesen zu haben: Der Text ist soooo wichtig, ihn unbedingt crossposten zu müssen?
15.09.2003 10:38:45  Zum letzten Beitrag
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Tony.50

Tony.50
So, und nachdem ich das gelesen habe: Nunja, ist wohl etwas reißerisch, der Text. Also an einigen Stellen schon ein wenig übertrieben dargestellt, und sicher die schlimmsten 5 Tage in seinem Zivi-Leben zusammengesucht. Außerdem kommt ja dazu, dass der Artikel schon fast 10 Jahre alt ist. Aber gut, sowas wird halt auf dem Zivi-Lehrgang gemacht.
Klar, der Job von Jochen ist sicher scheiße, aber ich denke, nur in den seltensten Fällen geht ein Zivi heute noch so ins Extreme. Ich hatte damals einen echt lockeren Job, der nichts mit alten oder kranken Leuten oder sonstwas zu tun hatte - Ich könnte genausogut einen Artikel über die Sonnenseiten des Zivilebens verfassen... alles nur eine Frage der Perspektive.
Es ist den Aufwand überhaupt nicht mehr wert, darauf rumzureiten, wie schlimm es sein kann, Zivi zu sein. Das war vielleicht aktuell, als Zivis weniger sozial anerkannt waren als heute. Also besteht für mich persönlich von der Warte her keinerlei Diskussionsbedarf.
15.09.2003 10:58:14  Zum letzten Beitrag
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MrSaigon

Leet
...
 
Zitat von [d'oh]RadioActiveMan
der schreibstil ist, zu mindest meiner meinung nach, richtig gut. diese vergleiche und bildlichen verdeutlichungen sind einfach nur klasse. der mann hat definitiv keine klatsche. vielleicht sind die erlebnisse überspitzt, aber vielleicht hat er sie auch wirklich erlebt. vielleicht hat er es sich auch nur aus erzählungen zusammengereimt.
auf jeden fall kommt es sehr glaubhaft rüber, und man kann sich gut in die situation hinein versetzen.
ich hab schon gute bücher gelesen, die schwächer geschrieben waren.
der mann hat talent.



Übertreibungen machen anschaulich! :P

Zum Thema: Ich bin mir sicher, dass es in den weiten des Internets, bzw. in den Köpfen so mancher einen ähnlicher Text gibt mit den 5 schlümmsten Tagen beim Bund! Durchaus Möglich, dass sich da dann einer übers BIWAK beschwert oder übers zeitige Aufstehen. Wenn mans genau nimmt, sind Bund und Zivi beide net so der Reisser! Entweder mitten in der Nacht raus oder Omas putzen. Thats Life?fröhlich
[Dieser Beitrag wurde 2 mal editiert; zum letzten Mal von MrSaigon am 15.09.2003 18:11]
15.09.2003 17:33:54  Zum letzten Beitrag
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Filth

tf2_spy.png
...
interessant.

schön geschrieben.
15.09.2003 20:12:33  Zum letzten Beitrag
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 Thema: Das wird schon wieder ( von Jochen Temsch )


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