Der Autor Timur Vermes ("Er ist wieder da") hat Friedrich Merz einen Brief geschrieben, den der erst in ein paar Jahren geöffnet haben wird.
| Sehr geehrter Herr Merz,
keine Angst, diesen Brief müssen Sie jetzt nicht lesen. Sie können ihn weglegen, zur Wiedervorlage. Wann? Etwa zwei oder drei Jahre, nachdem Ihre Union (ob mit oder ohne Ihren Segen) der AfD den Weg in die Regierung geöffnet hat. Natürlich: Sie sagen mir heute (da ich diesen Brief schreibe), dass das nie geschehen wird. Schön! Aber weil Sie ja jetzt diesen Brief lesen, sehen wir, dass es offenbar doch anders gekommen ist. Seltsam, nicht wahr?
Ich nehme also mal an, Sie öffnen diesen Brief zu Hause. Das ist etwas, was Sie vermutlich nur deshalb noch können, weil Sie nicht in der SPD sind oder bei den Grünen oder so. Sahra Wagenknecht könnte es hingegen auch, jetzt, in Moskau. Aber sie müsste es nicht mehr, weil Briefe dort ja bereits geöffnet ankommen.
n jedem Fall war's doch gut, dass ich Ihnen diesen Brief in der Vergangenheit geschickt habe, also haben Sie ihn schon. Und Zeit haben Sie auch, denn politisch tätig sind Sie inzwischen ja nicht mehr. Wie auch Ihre Kollegen von der Union, denen man nahegelegt hat, zu Hause zu bleiben und den Mund zu halten. Das hat natürlich einige überrascht, die gemeint hatten, die AfD wäre ihnen dankbar. Wie es sich zeigte, ist die AfD niemandem dankbar, und sie wird auch sehr ungern daran erinnert, dass sie mal nicht an der Macht war oder auf Hilfe angewiesen, aber das erwähnt ja auch besser niemand mehr.
Ein paar aus dem christlichen Flügel Ihrer Partei haben das gemacht, wissen Sie noch? Diese Christen sind ja oft so verbohrt. Wo sind die heute eigentlich? Schön, dass man es noch weiß. Wenigstens von den meisten. Sie haben völlig recht, Herr Merz, geplant war das ganz anders. Sie oder Ihre Parteifreunde wollten die AfD einhegen und absichern, und wenn sie irgendwie unkontrollierbar würde, dann würde man die Reißleine ziehen. Ein wasserdichter Plan, selbstverständlich. Bis auf die Sache mit der Unkontrollierbarkeit: Wer hätte gedacht, dass sie bedeutet, dass man etwas nicht mehr kontrollieren kann?
Oder dass diese Leute Gerichtsurteile nicht anerkennen? Wenn man überhaupt brauchbare Urteile bekommen hat, weil diese Leute erstaunlicherweise in den Gerichten und Staatsanwaltschaften auch schon ihre Sympathisanten sitzen hatten. Oder bei der Polizei. Und jeden Verwaltungsakt und jede Entscheidung haben sie so lange hinausgezögert, bis niemand mehr da war, der sie hätte anzweifeln können. Unglaublich raffiniert, nicht wahr? Konnte man nicht ahnen. Und diese Sache mit der Gewalt schon gar nicht. Überall diese Gewalt. Diese Einschüchterung. Und man wusste nie genau, wo sie herkommt, weil die AfD ja immer sagte, dass sie diese Leute nicht kennt oder dass es wütende Bürger waren oder übereifrige Polizisten oder spielende Kinder oder oder.
Sie selbst hatten auch ein, zwei beunruhigende Begegnungen, Herr Merz, nicht wahr? War sicher unangenehm. Möchte man nicht haben. Ist man lieber ruhig. Man will ja nicht, dass es einem geht wie ... Na, wir wissen beide, von wem wir reden. Zugegeben, jetzt (wo ich's schreibe) noch nicht, aber jetzt (wo Sie's lesen) schon. Der und der und die und die. Ist inzwischen eine ganz schöne Liste. Ganz abgesehen von den Deportierten, den Eingesperrten, den Entrechteten.
Was ich nicht genau weiß: Müssen inzwischen schon wieder irgendwelche Gruppen der Bevölkerung die Fußgängerzonen auf Knien schrubben? Ich würde es gerne vorhersagen, diese braune Szene greift ja oft zu historischen Vorbildern, es kann aber sein, dass die Fußgängerzonen inzwischen nicht mehr so gerne thematisiert werden. All die leerstehenden Läden. Die Wirtschaft läuft in Deutschland nicht mehr so gut ohne Fachkräfte oder geile Internetfirmen oder weil die ganzen Biodeutschen bei Lieferando nur bestellen wollen, aber eben nicht ausliefern.
Das ist das Blöde mit Nazis: Wenn's mies läuft, lösen sie keine Probleme, sondern suchen Schuldige. Konnte ja auch wieder keiner ahnen, dass Sie und Ihre Union dazugehören würden. Weil Sie nicht richtig mitgezogen haben, weil Sie nicht überzeugt waren, weil Sie vielleicht Zweifel hatten, weil Ihnen der fanatische Wille fehlte ... Nein, "fanatischer Wille" hat er es nicht genannt, der ... wissen Sie noch, wie er hieß? Ja, heute (wo ich's schreibe) wissen wir's beide, aber heute (wo Sie's lesen): Wer hätte gedacht, dass man Höcke mal als gemäßigten Kopf vermissen würde? Und es stimmt ja: All die gemütlichen Nazis, die abends in der Kneipe sitzen und ihr Bier trinken und Fußball schauen (gerade jetzt, wo die Nationalelf so blütenweiß ist), die hätten doch genauso gut nach oben kommen können.
Aber irgendwie steigen in Vereinen wie der AfD dann doch immer wieder die Heydrichs auf. Haben wir Pech? Wie oft muss man dieses Pech haben, bevor man sagen kann: Das ist systemimmanent? Ach, Herr Merz, wir könnten über all das vielleicht besser plaudern. Theoretisch, praktisch wissen Sie natürlich, dass es heute nicht gern gesehen wird, wenn sich politisch Unzuverlässige unterhalten. Oder: konspirieren. Ihre ehemaligen Regierungskollegen von der AfD sind ja überzeugt, dass die Unzuverlässigen der Grund sind, weshalb es diesem Land so viel schlechter geht als in den EU-Zeiten. Die Unzuverlässigen und die anderen Länder voller Ausländer um uns herum. Die sich an keine Absprache halten, wenn sie überhaupt eine treffen. Die nur noch schauen, was sie anderen wegnehmen können. Die nicht begreifen, dass sie nicht zuerst kommen können, wenn wir zuerst kommen.
Deswegen hat ja auch unsere Bundeswehr jetzt einen Etat, von dem sie unter Scholz nur träumen konnte. Weil man rüpelhaftes Benehmen auch robust absichern muss. Und mit Atomwaffen. Erstaunlich, wie rasch die da waren. So schnell hat man gar nicht schauen können. Aber das ist doch verständlich: Diese Russen können ja vor Kraft kaum gehen, seit man ihnen die Ukraine geschenkt hat. Und natürlich kann man sich auf die Engländer, die Franzosen, die Amerikaner, auf all diese Länder nicht mehr verlassen, denen man mit diesem "Deutschland zuerst" seit Jahren die Schienbeine wund tritt. Da sind Atomwaffen eine kostensparende Absicherung. Und wer weiß, vielleicht kann man damit auch mal zurückschießen, so gegen 5.45 Uhr.
Sie haben völlig recht, Herr Merz: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Drum sage ich ja: Öffnen Sie den Brief erst, wenn's passiert ist, dann sind wir beide gleich schlau. Dann können wir auf Augenhöhe reden. Ich gebe es gerne zu, ich konnte es selber ja auch nicht wissen, ich hab nur geraten, bzw. einfach hingehört, was die braunen Mordbuben so ankündigen. Konnte man nicht wissen, dass die es so meinen, nur weil das Putin, Trump, Orban und all die Anderen genauso gemacht haben. Oder weil sie mit Ihren Freunden von der Werteunion bereits wieder Wannseekonferenzen abhielten. Gut, diesmal am Lehnitzsee, aber auch dort ging's wie 1942 um Transportprobleme oder wer Deutscher ist und wer nicht, und auch dort fiel wie 1942 das Wort "Konzentrationslager" kein einziges Mal.
Konnte man also schon wieder nicht wissen. Muss denn jeder Winter kälter sein als der Sommer, nur weil's bisher so war? Eben. Es tut mir übrigens leid, dass ich nur Ihnen und Ihrer Partei diesen Brief schreiben konnte oder musste. Aber das ist nachvollziehbar, oder? Zur Machtergreifung konnte die AfD wohl kaum SPD und Grüne nehmen. Oder die FDP - Spaß muss sein, heute (wo Sie's lesen) mehr denn je. Und heute (wo ich's schreibe) taugt nun mal der Herr Aiwanger nur mental jederzeit zum Steigbügelhalter, aber prozentual eben nicht.
Lieber Herr Merz, ich wünsche Ihnen alles Gute. Es kommen vielleicht wieder bessere Zeiten. Der Herr von Papen hat beispielsweise damals nach seiner zwölfjährigen Überwinterung als Botschafter in Österreich (würden Sie nie tun, ich weiß) noch das ganze Wirtschaftswunder mitgenommen. Und außerdem: Sie können vielleicht gar nicht so viel für das, was seither passiert ist. Es waren ja vor allem Ihre Parteifreunde, die keine Lust hatten, sich mit den anderen Demokraten zu verbünden. Dabei, man mag es immer wieder kaum glauben, hätte das vor ein paar Jahren genauso gereicht wie 1933.
Aber da ist doch die eine Frage, die Sie mir vielleicht beantworten können. Nicht heute (wo ich's schreibe), aber heute (wo Sie's lesen): Was hätte ich damals zu Ihnen und Ihrer Partei sagen sollen? Damals, als man noch alles hätte verhindern können? Als der Gedanke so verführerisch war, man könnte die AfD benutzen und weglegen wie einen Schraubenschlüssel. Wie hätte ich zu Ihnen und Ihren Parteifreunden und -freundinnen durchdringen können? Oder lag es einfach daran, dass Ihre Partei in diesem Moment niemanden vom Kaliber eines Wolfgang Schäuble hatte? Dass ein Heiner Geissler, eine Rita Süssmuth nötig gewesen wären, um die Kollegen zu überzeugen, wofür man sich zu entscheiden hat, wenn man wählen kann zwischen Macht und Demokratie?
Ich wünsche Ihnen alles Gute, so von politisch Unzuverlässigem zu politisch Unzuverlässigem. Bleiben Sie gesund. Bleiben Sie in Deckung.
Timur Vermes
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